Vor drei Jahrzehnten traf unsere Abituria eine wegweisende Entscheidung: Die Öffnung für Abiturienten aller Würzburger Gymnasien. Wir erinnerten daran am gestrigen Samstag im Rahmen unserer Semesterabschlusskneipe. Nachdem 1910 die ersten Abiturienten der Oberrealschule Würzburg (heute Röntgen-Gymnasium) im Restaurant Schwarzer Walfisch unsere Schülerverbindung gegründet hatten, konnten nur Oberstufenschüler und Absolventen jener Bildungseinrichtung Mitglied werden. Dies sollte sich 1993 ändern. Der Antrag von Bbr. Dr. Matthias Wagner auf eine Öffnung für alle Würzburger Gymnasien wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die damit verbundenen Diskussionen zur Änderung unseres Verbindungsnamens zogen sich dagegen über Monate hin. In dieser Zeit kristallisierten sich drei Vorschläge heraus, die auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung zur Abstimmung kamen: Abituria Würzburg, Abituria Herbipolensis und Abituria Conradina (in Anlehnung an den zweiten Vornamen Wilhelm Conrad Röntgens, dem zu Ehren unsere Schule seit 1965 Röntgen-Gymnasium heißt).
Doch fiel die Entscheidung mit „Abituria Wirceburgia“ anders als erwartet aus. Zu verdanken haben wir dies unserem geschätzten Bbr. Alfred „Alet“ Pflüger. Er hatte erst auf jener Mitgliederversammlung den Namen „Wirceburgia“ ins Spiel gebracht und dazu erklärt, dass zwei seiner jüdisch-gläubigen Mitschüler nach der Reifeprüfung bei der gleichnamigen Studentenverbindung aktiv geworden waren. Wie sich später herausstellte, waren auch zwei jüdische Bundesbrüder unserer Abituria Mitglied der akademischen Wirceburgia: Dr. Adolf Lustig (Abitur 1911, siehe Foto) und Dr. Fritz (Fred) Sonder (Abitur 1919). Zu beiden unterhielten wir nach überstandenem NS-Regime und 2. Weltkrieg weiterhin Kontakt, wie auch zu anderen Abiturianern jüdischen Glaubens. Dass dies nach den Gräueltaten während der Schoah möglich war, ist ebenfalls ein Verdienst unseres Bbr. Alfred Pflüger, denn er war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten maßgeblich an der Entscheidung beteiligt, dass sich unsere Verbindung nicht „arisierte“, sondern im Gegenteil die Abiturianer mosaischen Glaubens weiterhin als Mitglieder führte. Unsere Abituria widersetzte sich auf diese Weise dem damaligen Zeitgeist und stellte ihre eigenen Prinzipien über diejenigen der NS-Machthaber. Hiermit bewährte sich aufs Vortrefflichste das Motto unseres Wahlspruchs „Furchtlos und treu!“ Es war durchaus eine große Portion Furchtlosigkeit notwendig, um sich gegen die damaligen unseligen politischen Vorgaben zu entscheiden. Auch die viel beschworene bundesbrüderliche Treue war aufgrund dieses Entschlusses nicht nur eine leere Worthülse, sondern wurde tatsächlich gelebt.
Auf das Jahr 1993 zurückblickend war es folglich ein richtiger Beschluss, mit dem neu gewählten Namen „Abituria Wirceburgia“ an jene jüdisch-paritätische Studentenverbindung zu erinnern. Die akademische Wirceburgia war 1885 als Antwort auf die antisemitische Bewegung der wilhelminischen Zeit gegründet worden. Zunächst als „Wissenschaftlich-Gesellige Vereinigung“ bezeichnet, entwickelte sich der Bund in den folgenden Jahren zu einer schlagenden Studentenverbindung, deren Mitglieder rote Mützen und rot-blau-weiße Bänder trugen. Die Korporation nannte sich paritätisch, da neben Juden auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen aufgenommen wurden. Tatsächlich waren jedoch die jüdischen Mitglieder in der überwiegenden Mehrheit. Im Jahr 1919 gründete Wirceburgia mit anderen paritätischen Verbindungen einen Dachverband, den Burschenbundsconvent (BC), und nannte sich fortan „Burschenbund im BC Wirceburgia“. Durch die ständig wachsende Zahl von Mitgliedern wurde es 1925 möglich, als erste Mitgliedskorporation des BC ein eigenes Haus in der Mergentheimer Straße 22 zu erwerben, in dem vorher die Burschenschaft Cimbria residiert hatte (später entstand auf dem Grundstück die Frauenklinik Dr. Köster und nach deren Schließung war in dem Gebäude eine Zweigstelle des Arbeitsamts untergebracht war). Für den Kauf des Hauses hatte sich maßgeblich der in Würzburg wohnende Alte Herr Wirceburgiae, Apotheker Max Mandelbaum, eingesetzt. Zum Zeitpunkt der Zwangsauflösung Mitte 1933 zählte Wirceburgia stolze 230 Mitglieder.
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